GG GG GG GG GG GG GG GG

Ausstellung zum 4. Gelderner Turmstipendium

Geldern am Niederrhein, 2003

  • 1000 Küsse, unterschiedlichste Lippenstifte, auf alle Fenster geküsst, CD-Player mit Kußgeräuschen
  • Körperabdruck, Melkfett auf Acrylglasscheibe, Ø 200 cmm auf 9 runden Acrylglassockeln, H 3 cm
  • Körperabformungen aus transparentem Silikon
  • Höllensturz, Projektion mit Überblendung (ca. 80 Akte von mir) auf eine semitransparente Fläche, Beamer, DVD, Spiegel
  • barocke Pflanzschale aus Baumarkt vergoldet, Foto mit Acrylglasabdeckung isoliert, Leuchtmittel 25 Watt, Wasser tropft über eine Infusion aus einem aus Silikon geformten Herz in die Schale
  • Schweineblasen an Geschenkbändern von roter Wäscheleine hängend, Bewegungsmelder startet CD-Player mit Geräuschen vom Aufblasen der Schweineblasen und Unterhaltungsmusik, wenn Bewegung im Raum

Anlässlich des 4. Gelderner Turmstipendiums im Wasserturm verwandelte die Künstlerin Luzia-Maria Derks das Gemäuer auf eindringliche und persönliche Weise. Für die Dauer ihres Aufenthaltes, den sie fast ohne Unterbrechungen im Turm lebend und arbeitend verbrachte, war ihr das Gebäude gleichsam selbstgewähltes Gefängnis und Schutz. Nach und nach verwandelte sie es in einen „Frauenturm", derer man ähnliche mit historischen und fiktiven Gestalten wie Rapunzel, der heiligen Barbara, der Gräfin Cosel oder auch Annette von Droste-Hülshoff assoziieren könnte. Über drei Etagen ist eine Auseinandersetzung mit dem Bauwerk und ihrer eigenen Person entstanden, die Exil, Klausur und Innenschau vereint. Der Turm wurde Widerpart und Ort ihrer Sehnsüchte.

Die Estrichböden der ersten drei Obergeschosse des Wasserturms sind nun, wie die Wände auch, weiß gestrichen. Die runden, vielfach durchfensterten Räume wurden gleichsam entmaterialisiert und machen nun mehr denn je spürbar, dass dieses Gebäude fürwahr von allen Seiten den Elementen ausgeliefert ist. Von diesen ist vor allen anderen eines für die Arbeit von Luzia-Maria Derks wichtig: das Licht. Es dringt durch die kleinen Fenster und dicken Fensterlaibungen in das Innere der Räume und erhellt auf seinem Wege das, was ihm die Künstlerin in den einzelnen Geschossen in den Weg gestellt hat: Abdrücke ihres rot bemalten Mundes, tausendfach auf Fensterscheiben hinterlassen, weiße durchscheinende Silikonabformungen ihres Körpers, die von innen vor den Fenstern schweben und eigentümliche Luftballons, die, feingeädert und von fremdartiger ledriger Konsistenz, in der Mitte des Raumes baumeln. Mit Hilfe des Lichts thematisiert die Künstlerin Innen und Außen: Licht, das von außen die Räume erhellt und so sichtbar macht, was sich im Inneren des Turms, aber auch im Inneren des Menschen abspielt.

Intuitiv vorgehend ist es Luzia-Maria Derks gelungen, einen sehr persönlichen und künstlerisch stringenten Zyklus im Turm zu installieren, den der Betrachter, auf eben seine Intuition zurückgeworfen, durchschreitet. Um Liebe und Exzess kreist die Einrichtung der ersten Etage: Hier ist die äußerste Haut des Turms, seine Fenster, zum Bildträger umfunktioniert. Luzia-Maria Derks presst exzessiv, Abdruck an Abdruck, über mehrere Tage Kussmünder auf die Scheiben. Der Abdruck des Kusses ist, wie beim fotografischen Bild, die Spur des Dagewesenen und steht daher für den Kuss selbst. Der Kuss als Symbol der Liebe und die roten Lippen als Signale für Verführung, Gesundheit, Fruchtbarkeit und Attraktivität werden ins Gegenteil verkehrt und stehen für Zwanghaftigkeit und Leiden. Die Mitte des Bodens wird von einer durchsichtigen runden Scheibe bedeckt. Mit bloßem Auge kaum zu erkennen und erst durch Umkreisen und den unterschiedlichen Lichteinfall sichtbar, findet sich darauf ein Fettabdruck des Körpers der Künstlerin. Wiederum eine Spur, die von der Anwesenheit der Künstlerin zeugt; so wird an diesem Punkt deutlich, wie sehr sie auch ihren Körper als Instrument einsetzt und diese Installation über ihre Bedürfnisse, in ihrem Körper manifest, definiert.

Den Drang nach Berührung wecken die Silikonarbeiten, die in der zweiten Etage vor den Fenstern vom Tageslicht erleuchtet werden. Schwerelos und diaphan wie Alabaster, scheinen sie nicht von dieser Welt zu sein. Auf den ersten Blick amorph und erst bei näherem Hinsehen als abstrakte Fragmente des weiblichen Körpers erkennbar, fungieren sie als pars pro toto. Die Ahnung von dem Körper, der sie formte, löst sich im wahrsten Sinne in Luft auf, wenn der Betrachter der „Himmelsleiter" gewahr wird, die, fragil und durchsichtig, vom Boden bis an die Decke des Raumes führt und dort in eine Diaprojektion mündet. In der christlichen Ikonographie ist die Himmelsleiter Sinnbild für den Weg zur Vollkommenheit. Laster behindern die Emporklimmenden und bringen diese auch zum Absturz. Dieser erfolgt zwangsläufig mit Erklimmen der letzten Sprosse. Von hoch oben, aus der Decke des Raumes scheint die Künstlerin herabzustürzen. Die Dias zeigen sie nackt und schutzlos, den Körper gewunden und wie im freien Fall begriffen. Unweigerlich stellt sich die Assoziation mit dem Höllensturz ein, dem Thema des Jüngsten Gerichts, bei dem die Verdammten von den Seligen geschieden werden.

Fernab von Dramatik und Schwere wähnt sich der Besucher im dritten Obergeschoss einer Narretei aufgesessen zu sein. Eigentümliche Luftballons füllen den Raum und erinnern mit ihren bunten Aufhängungen an einen Kindergeburtstag. Eine weitere Diaprojektion, die schwach auf einer Wand erscheint, verschwindet im nächsten Moment, und statt dessen ertönen rhythmisches Ächzen und Musik. Die Komplexität der Installation entlädt sich in der Erkenntnis der Illusion. Die Ballons sind nicht die Kindheitserinnerung an heitere Feste, sondern aufgeblasene und getrocknete Schweineblasen. Die Erscheinung auf der Wand ist nicht nur einfach ein Bild, sondern ein provokanter Akt, der wiederum die Künstlerin selbst zeigt. Als Helmut-Newton-Plagiat zeigt sie sich als Femme fatale, der die Welt zu Füßen liegt. Und das mit Unterhaltungsmusik hinterlegte Ächzen ist nicht wirklich so animalisch, wie es zu sein scheint, sondern das Geräusch des Aufpumpens der Schweineblasen. Auch wenn die Phantasie an diesem Punkt mit einem durchgegangen ist, holt das Zerplatzen einer überforderten Schweineblase den Betrachter auf den Boden der Tatsachen zurück. In dieser Etage wird deutlich, wie offen die gesamte Konzeption der Installation für unterschiedlichste Deutungen ist und wie sehr die Hintergründigkeiten und Anspielungen zum Dialog mit dem Betrachter einladen.

Und so bleibt auch mir nichts anderes übrig, als alles noch einmal zu rekapitulieren und zu konstatieren, wie märchenhaft und romantisch, wie dramatisch und verzweifelt und wie stark und dicht diese Installation gelungen ist.

Dr. Nina Schulze, Museum Kurhaus Kleve

GGnach oben